Montag, 10. Januar 2011
Frauen und vier Räder
Anna ist motzig. Kann ich nicht ändern. Die Straße ist glatt. Der Regen hat den Schnee in eine zähe Pampe verwandelt, die nun schmierseifenartig die Fahrbahn bedeckt. Zügige Fahrt unmöglich.

Im Rückspiegel sehe ich einen kleinen Jungen, der sich rasch nähert. Sein Bobby-Car macht mächtig Tempo. Er gibt Handzeichen, schert aus und überholt mich. Die Mähne des Kleinen flattert dabei heftig im Fahrtwind. Mit der Rennbrille, die sein Gesicht ziert, wirkt er ziemlich komisch. Lässt ihn froschartig aussehen. Er grinst und streckt einen Daumen in Rennfahrermanier nach oben als er uns passiert.

Anna schüttelt genervt den Kopf.
"Siehste, der fährt auch schneller."
"Naja, der hat wesentlich schmalere Reifen als meine Karre", entgegne ich fachkundig.
Sie schnaubt verächtlich.
"Haha, aber keine Winterreifen. Die Dinger sind sogar profillos."
In mir keimt der Verdacht auf, dass sie neben den üblichen, brüllend komischen Soaps heimlich Automagazine konsumiert.
Kannst du nichts machen als Mann, wenn Frau nun auch auf deinem ureigensten Territorium wildert.
Ok, ist eigentlich gar nicht mein Ding - Verbrennungsmotoren und all der Kram. Sollte es aber sein, als echter Kerl von Schrot und Korn.
Egal.

Schweigend steuere ich den Parkplatz des Supermarktes an, belege einen der ausgangsnahen Parkplätze und schalte den Motor ab.
"Geh Du schon mal hinein", sagt Anna und drückt mir den Einkaufszettel in die Hand.
Sie bleibt am Auto stehen während ich losziehe und mich um einen Einkaufswagen bemühe.
Die Liste ist recht übersichtlich, sodass nach wenigen Minuten der Auftrag erledigt ist und ich mich wieder zum Auto bewege.

Der Parkplatz ist menschenleer. Keine Spur von Anna.
Ich räume die Artikel in den Kofferraum und halte immer wieder Ausschau. Weit und breit kein menschliches, schon gar kein weibliches Wesen zu erkennen.
Nachdem der Einkaufswagen wieder mit seinen Brüdern verkettet ist, beschließe ich im Wagen zu warten.
Eindeutig wärmer als an der kühlen Winterluft und mit der Option, dem CD-Player wohltuende Klänge zu entlocken.

Unter dem Scheibenwischer klemmt ein Zettel:
"Bin mit Benny und seinem Bobby-Car auf Spritztour. Er bringt mich später nach Hause. Bis dann. Bussi"
Verächtlich schnaubend zerknülle ich das Schriftstück und trampel mit den Schuhen darauf herum.
"Frauen", fährt es mir durch den Kopf, "langhaarige Jungs in offenen Autos und schon lassen sie sich um den Finger wickeln."

Morgen fahre ich zum Autohändler.
Werde mir einen Bobby-Car anschaffen.
Mit Allrad und breiten Schlappen.
Außerdem lasse ich mir die Haare lang wachsen.
Mann ist schließlich flexibel.

© by P.H.



Mittwoch, 5. Januar 2011
Die Frau - das unbekannte Wesen
"Schneckenalarm auf 3 Uhr", sagt Thomas und stößt mich in die Seite.
Ich zucke zusammen und schaue auf die Tanzfläche.
Tatsächlich, eine glatte 8 auf der Schnittenskala bewegt gerade ihre Hüften zu den Beats, die wummernd aus den mächtigen Boxen dröhnen.
Ihr langes, dunkles Haar schüttelt sie im Takt der Musik und gewährt dabei einen Blick auf ihr hübsches Gesicht.
Schwarzer Lippenstift. Himmel, ich liebe schwarzen Lippenstift.
Es fällt mir schwer, die Augen von dieser Erscheinung zu lassen.
Thomas grinst.
"Und, Alter - was ist?"
Ich nicke ihm zu, will mich erheben und im nächsten Moment sehe ich wie die Lady irgendwo in der Menge verschwindet.

"Shit!", denke ich und nehme die Verfolgung auf.
So sehr ich aber auch Ausschau halte - sie bleibt verschwunden.

"Come on, die taucht sicher irgendwann wieder auf", meint Thomas tröstend, als wir später den Laden verlassen.
"Quatsch, die war nicht von dieser Welt. Sicher nur auf der Durchreise zu einer anderen Galaxie", erwidere ich resigniert.
Er lacht und klopft mir aufmunternd auf die Schulter.
"Naja, vielleicht fand sie es gar nicht übel und landet demnächst wieder hier."
Der Spott in seiner Stimme ist kaum zu überhören.

Wir verabschieden uns und als ich später in den Schlaf sinke, träume ich von außerirdischen Invasionen.
Jede Menge UFOs und Amazonen vom Mars.

Der Morgen lächelt hell durch die Jalousie als ich erwache und den Weg in die Küche suche.
Die Kaffeemaschine röchelt asthmatisch während meine Gedanken dem gestrigen Abend nachhängen.
"Das nächste Mal bist Du schneller", fährt es mir durch den Kopf.
Ich greife nach den Zigaretten.
"Scheiße - leer", sendet die Hand an mein erwachendes Gehirn.
"Die Tankstelle ist nicht weit - dort gibt es Nachschub", die Antwort aus dem Denkzentrum.

Ich greife nach den Autoschlüsseln und begebe mich auf dem Weg.

An der Tankstelle herrscht mäßiger Betrieb.
Nicht das erste Mal, dass ich hier aufschlage.
Inzwischen ist mir das Personal bekannt.
Mit manchen pflege ich sogar hin und wieder etwas Konversation.
"Ja, das Wetter nervt", und "demnächst tanke ich Channel No.5 - ist preiswerter."
Solche Dinge.

Diesmal steht ein neues Gesicht an der Kasse.
Ich fokusiere meinen Blick und schaue weg.
Dann wieder hin.
Kein Trugbild - Lady Alien von der Tanzfläche tippt geschaftig Zahlen hinter der Theke ein.
Ohne Lippenstift, aber nicht minder umwerfend.

Als ich an die Reihe komme, gebe ich mit heiserer Stimme meinen Wunsch an.
Sie greift in das Regal, legt das Päckchen auf den Tisch, nimmt das Geld entgegen und wünscht einen guten Tag.
Dabei schaut sie nicht einmal hoch.

Frustriert ziehe ich von dannen und denke über eine neue Taktik nach.
"Möglicherweise solltest du an deiner Erscheinung arbeiten", durchfährt es mich.
Also heimwärts und den Kleiderschrank konsultiert.
Ich wähle eine figurbetonte Jeans und das poppiges Shirt vom Aldi-Wühltisch.

In der Tankstelle ist es ruhig.
Ich greife nach einem Schokoriegel und lege ihn auf die Theke.
Sie kassiert und wünscht einen guten Tag.
Wieder ohne den Blick zu heben.

Ich fluche innerlich und wähle diesmal ein dunkles Outfit.
Schwarze Jeans und schwarzer Rollkragenpullover.
Sie kassiert die Cola ab ohne ihre Augen vom Kassendisplay zu heben.

Wenig später stehe ich mit Hawaiihemd und Blümchenshorts an der Kasse und lege eine Tüte Chips auf die Theke.
Lady Alien schaut auf.
"Würden Sie mir einen Gefallen tun?"
Mein Herz vollführt einen freudigen Satz.
"Sicher", entfährt es mir.
"Wenn ich Ihnen meine Telefonnummer gebe, suche Sie sich dann eine andere Einkaufsmöglichkeit?"
Verlegen nicke ich mit dem Kopf und fühle mich irgendwie ertappt.
Sie greift nach einem Zettel, schreibt eine Zahlenfolge und reicht mir diesen.
Dabei umspielt ein Lächeln ihr Gesicht.

Nun, was soll ich sagen?
Wir haben miteinander gesprochen - am Telefon.
Kommenden Samstag steht ein Date auf dem Plan.
Zugegeben - ich zähle die Stunden.
Aber mal unter uns: Eine Frage treibt mich jetzt echt um....was zum Henker soll ich anziehen ???

© by P.H.



Dienstag, 4. Januar 2011
Sommerloch
Es war einer dieser extrem heißen Sommertage. Die Luft flimmerte über dem Asphalt und ließ Phantasiegebilde entstehen.
"Pass auf, Papa", hatte meine Tochter gesagt, "denk an die Sommerlöcher."
Ich nickte ihr grinsend zu, schnallte den Helm um und schwang mich auf das Mountainbike.
"Keine Sorge, Prinzessin", rief ich ihr zu und steuerte das Rad aus dem Hof.
"Bis später !"

Warmer Wind strich mir entegegen, die dicken Profilreifen sangen eine wohklingende Melodie auf dem Straßenbelag.
Rundum zufrieden drückte ich den Knopf des mp3-Players und spürte das Adrenalin durch den Körper strömen, als die Beats meine Trommelfelle erreichten. Schnell ließ ich die Häuser hinter mir und rollte über einsame Asphaltpisten dem Wald entgegen.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als die kleine Straße eine enge Kurve beschrieb und ich die Bremse betätigte, um in angemessener Geschwindigkeit die Kehre zu nehmen.
Zu spät war das Loch in der Fahrbahn zu erkennen, das sich plötzlich unmittelbar hinter der Biegung vor mir auftat. Die kraftvolle Betätigung der Hebel hatte zur Folge, dass die Räder blockierten und ich in einem eleganten Bogen über mein Bike katapultiert wurde. Im Ansatz des unfreiwilligen Kopfsprunges sah ich die Straßenöffnung auf mich zukommen, als mich Dunkelheit verschluckte. Es mochten nur wenige Sekunden Fall vergangen sein, als ich unsanft aber nicht hart aufschlug. Irgend etwas hatte meinen Sturz gedämpft.

Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass der Boden mit Unmengen von Stroh bedeckt war. Meine Ellenbogen schmerzten, offensichtlich hatten sie unter dem Aufprall leiden müssen. Ich spähte nach oben und sah über mir die Öffnung, durch die ich gestürzt war. Unerreichbar weit - es mochten gut und gerne 20 Meter sein.
Der höhlenartige Raum, in dem ich mich befand, schien gewaltige Ausmaße zu haben. Wände oder andere Begrenzungen waren auf den ersten Blick nicht auszumachen. Vorsichtig versuchte ich aufzustehen und bemerkte erleichtert, dass nichts gebrochen zu sein schien.

"Willkommen in deinem Sommerloch !"
Erschrocken fuhr ich herum und erspähte in einiger Entfernung eine kleine Gestalt, die sich hinter einem tischartigen Gebilde räkelte.
"Tritt näher und nimm Platz, mein Freund"

Ich schlurfte zu dem Wesen und bezog auf dem strohbedeckten Boden gegenüber Position. Das Männlein schien mir von kleiner Statur zu sein, offensichtlich sehr betagt und das Gesicht kaum auszumachen, wurde es doch von einem wild wuchernden, weißen Bart nahezu vollständig verdeckt. Lediglich zwei fröhliche Augenpaare blickten mich neugierig an.

"Na, hättest du mal auf deine Tochter gehört", sagte das Wesen.
Ich seufzte und nickte mit dem Kopf.
"Ja, in solchen Dingen hat sie wohl seherische Fähigkeiten."

Der Alte verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen und zog zwischen den Falten seiner Kutte ein Kartenspiel hervor. "Five Card Draw ?", fragte er und ließ die Karten zwischen seinen Fingern tanzen.
Ich dachte kurz nach, lag doch meine Pokerzeit schon lange zurück. Landschulheim 1982 mochte es gewesen sein.
"Ist das die Variante mit 5 verdeckten Karten und 3 Tauschrunden ?", fragte ich. Er nickte und begann auszuteilen.

"Du spielst nicht - wie kommt das ?", hakte er nach.
"Naja, schlechte Erfahrungen gemacht", antwortete ich.
"Erzähle mir davon", forderte er mich auf.
"Es war diese Sache, als meine Freundin mal aufschnappte, wie ich von Sabine und Michaela schwärmte."
Der Alte runzelte fragend die Stirn.
"Naja, ich erklärte ihr, dass es sich um ein Damenpärchen handeln würde, mit dem ich vergangene Nacht die Pokerrunde gewinnen konnte."
"Ja und ?"
"Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, erwartete mich meine Freundin mit einem Koffer in der Hand - das Damenpärchen hatte angerufen..."
Der Alte grinste, "Verstehe."

Das Spiel begann und die Siegerfront wechselte ständig. Im letzten und entscheidenden Durchgang war mir das Glück hold.
Ich zog die grüne 4 und eine “Du kommst aus dem Gefängnis frei”- Karte, er erwischte den schwarzen Peter und warf wutschnaubend das Blatt auf den Tisch. "Ok, du hast gewonnen."

Erleichtert wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Im nächsten Moment fand ich mich auf der Straße wieder. Mein Bike nur wenige Schritte von mir entfernt und weit und breit keine Straßenschäden zu erkennen.

Ich schwang mich auf das Rad und trat den Heimweg an. Keine Silbe über mein Erlebnis zu Hause.
Eines ist gewiss: Künftig werde ich meiner Tochter mehr Gehör schenken und mich mit offenen Augen durch die Landschaft bewegen.

© by P.H.



Montag, 3. Januar 2011
Blaue Pillen
Heute ist Sonntag.
Tatsächlich, der Briefkasten öffnet weit seinen Rachen und streckt mir nicht, wie üblich, eine bunte Zunge mit allerlei Werbeprospekten entgegen.

Sonntag bleibt der Briefkasten spambefreite Zone. Also, der vor der Haustür, nicht der elektronische. Der hat nie Pause. Wieder einmal rattert das Mailprogramm fröhlich vor sich hin und präsentiert mir stolz den prallgefüllten Posteingang.

Eine "Frau Dr. Marianne Seifert" beschenkt mich mit frohen Grüßen. Kein "Hallo" oder "wunderschönen, guten Morgen", sondern: "Haben Sie im Bett Probleme, ihre Ehefrau zu befriedigen?"
Nun, das ist jetzt nicht unbedingt die Frage, die ich mir üblicherweise zu Tagesbeginn stelle. Wenn ich es mir recht überlege, taucht dieser Punkt so gar nicht in meiner Agenda auf.
Ich beschließe, ein glücklicher Mensch zu sein, dass mir derartige Probleme nicht auf den Nägeln brennen.

Auf ihrer Webseite, so schreibt sie, gäbe es nun "original blaue Pillen".
Ich habe unzählige Male Matrix gesehen. Da wird Neo vor die Wahl gestellt, ob er die blaue oder rote Pille nehmen wolle. Er enscheidet sich für die rote und erfährt die grausame Wahrheit. Mit Einnahme der blauen Pille wäre er unwissend geblieben.

So weit so gut, aber was hat Frau Dr. Marianne Seifert mit der Matrix zu tun und warum sollte ich die blaue Pille erwerben, wenn sie mich doch in meinem stumpfen Dasein belässt?

Im nächsten Schreiben wird es konkreter. Eine "Frau Dr. Dr. Susanne Graf" schreibt da: "Die Macht des steifen Schwanzes ist dadurch 3-5 mal haerter, unsere alles fuer Sie als Mann verbessern deutlich die sexuelle Staerke, Energie und die Sperma-Anzahl."

Irgendwie fühle ich mich geschmeichelt, dass solche medizinische Hochkaräter mir all ihre geballte Kompetenz zur Verfügung stellen, aber eigentlich sehe ich keinen Bedarf für mich auf diesem Feld. Naja, farbige Pillen hat sie offensichtlich nicht im Angebot - schade.

Während ich nun also noch meinen Gedanken nachhänge, höre ich einen Schlüssel im Schloss der Zimmertür drehen. Schwester Maria tritt in den Raum, fröhlich lächelnd, wie immer. In der Hand ein blaue Pille. "Soo, jetzt öffnen wir brav den Mund." Gehorsam leiste ich dem Folge und nehme einen ordentlichen Schluck Wasser aus der Flasche dazu.
Das Leben kann so einfach sein...

© by P.H.



Spiel mir das Lied vom Tod
Den Herrn Bronson kennt ihr sicher.
Lebt leider nicht mehr. War ein ziemlich musikalischer Mensch.
Der hat mal in einem Film mitgespielt, wo er ständig auf einer Mundharmonika gespielt hat. Ist jetzt aber nicht das Thema.

In dem Film hat der Herr Bronson aber einen Satz gesagt, der zu meinen Lieblingssätzen gehört: "Irgendeiner wartet immer."

Irgendwie cool und echt tiefsinnig.
Naja, stimmt doch.
Du wartest auf den 1. des Monats.
Du wartest, dass sie endlich fertig ist mit dem Erotikkram.
Du wartest, bis sich die Seiten bei single-de-äh aufgebaut haben.
Du wartest auf den Feierabend und dann bis das Pils fertig gezapft ist.
Ja, der Herr Bronson war irgendwie ein Philosoph.

Übrigens, kennt ihr den Herrn Schwarzenegger ?
Der ist eigentlich Österreicher, hatte aber keine Lust mehr auf Kaiserschmarrn. Da hat er dann jede Menge Eiweiß und andere Sachen gefuttert von denen man mächtig Muckis bekommt.

Das hat den Amis so gut gefallen, dass sie ihm einen Job in Kalifornien gegeben haben. Ist auch besser als Österreich. Zwar weniger Berge, aber wärmer.

Hätte ich beinahe vergessen - der Herr Schwarzenegger hat auch Filme gemacht. Meistens Muckifilme. Also nichts mit der Förster im Silberwald oder so.
Der hat gegen echt fiese Monster gekämpft. Nein, nicht die vom Finanzamt, sondern Außerirdische. Nein, nicht die von Neun Live - echte Monster.

Jedenfalls hat er da auch mal was echt Kluges gesagt: "Wenn es blutet, kann man es töten."
Hammer, gell ?

Auch gut - der Herr Stallone. Kennt ihr bestimmt.
Der hat früher mal geboxt. Gegen Schweinehälften und so.
Dann hat er alleine gegen alle gekämpft. Das kann er echt prima.
Einmal fragte ihn jemand in einem Film, was er da für einen Gegenstand hätte:
"Das ist blaues Licht."
"Was macht es?"
"Es leuchtet blau."
"Verstehe..."

Genial, nicht wahr ?

© by P.H.



Entschleunigung
Der Wind weht durch die offene Halle des Bahnhofes. Fröstelnd vergräbt er die Hände in den Taschen des Mantels und lässt den Blick schweifen.
Einzelne Reisende bevölkern die Bahnsteige.
Welche Geschichte wohl jeder von ihnen zu erzählen hätte?
Der Student mit einem Koffer voller Kleidung, die die heimische Waschmaschine am Wochenende bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit strapazieren wird.
Die junge Frau auf dem Weg zu ihrem Freund, den es berufsbedingt an einen fernen Ort verschlagen haben mag.
Das Paar, das die letzten Minuten vor dem drohenden Abschied, wehmütig ineinander versunken, dem baldigen Wiedersehen entgegenfiebert.

Schnarrend plärren Durchsagen durch die Halle.
Stählerne Ungetüme fahren ein und spücken Menschen aus.
Menschen, die geschäftig Ziele ansteuern.
Menschen werden wiederum von öffnenden Türen verschluckt.

Wie kostbar der Gedanke an Zeit.
"Nein, ich nehme eine andere Linie."
"Vielleicht auch nicht."
"Ach, ich bleibe einfach hier."

Entschleunigung in einer beschleunigten Zeit.

Henry Ford sagte mal:
"Der größte Feind der Qualität ist die Eile."

Wenn er auch an Tin Lizzy dachte, die Zeit kann es gleichermaßen für sich in Anspruch nehmen.

© by P.H.



Freitag, 31. Dezember 2010
Stachelzone
"Nein, heute nicht", lasse ich mit schwachem Widerstand vernehmen und schiebe ihre Hand aus dem frontalen Äquatorgürtel.
"Warum?"
"Wildwuchs, die Wiese ist nicht gemäht."
Sie schnaubt verärgert und setzt sich im Bett auf.
"Nene, mein Lieber, so kommst Du mir nicht davon."

Unwiderstehlich süß ist sie, wenn sie so engagiert ein Ziel verfolgt.
Dann blitzen die Augen in wacher Kampfeslaune, kleine Fältchen bilden sich auf ihrer Stirn und der Mund beschreibt einen spitzen Kreis.
"Wenn Du den Abbruch jeglicher diplomatischen Beziehungen verhindern willst, wird es Zeit für Verhandlungen."
Keine Frage, die Lage ist ernst.

"Nun, woran hast Du gedacht?"
"2+4-Gespräche", kommt es wie aus der Pistole geschossen
Ziemlich fragend muss ich sie wohl anschauen: "2 ok, aber wer sind die anderen 4?"
Sie deutet auf meinen kleinen Spielgefährten und eine Kopfbewegung weist zwischen ihre Beine.
"Verstanden", muss ich grinsend bekennen, "es fehlen aber immer noch 2."
Sie streicht über ihr Shirt, was die Zwillingsgeschütze deutlich zum Vorschein treten lässt.
Klar, wo die Diplomatie versagt, müssen Drohkulissen geschaffen werden.

Ergeben nicke ich und erwarte den Beginn des Tribunals.
"So, hätten wir das geklärt. Nun zu Dir."
Ihr Finger zielt auf mich.
"In meiner Eigenschaft als Landespflegerin erhebe ich hiermit akuten Anspruch auf Nutzung der Landezone."
"Hör mal, die ist aber gerade nicht befriedet. Ziemlich ungastlich. Lass uns das doch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, wenn die Stachelzone wieder begehbar."

Statt einer Antwort fasst sie meinen einäugigen Kampfgefährten und haucht ihm einen Kuss auf das purpurne Mützchen.
Jetzt fühle ich mich wirklich verraten, da selbst mein treuer Freund die Fronten wechselt und durch Hebung des Schlagbaumes seine Zustimmung signalisiert.
"Tja, 5 gegen 1, würde ich sagen", meint sie und ein triumphierendes Grinsen umspielt ihre vollen Lippen.

Wie soll ein überzeugter Demokrat anders reagieren als sich der überwältigenden Stimmenmehrheit zu beugen?
Tatsächlich wäre an dieser Stelle nun der Einsatz von leichtem Räumgerät zu erwarten gewesen. Auffahrt von Planierraupen in unwegsamen Gelände oder so.
Nein, stattdessen geht sie wortlos in die Offensive und beginnt mit der Einnahme umstrittener Landstriche.

Naja, der weitere Verlauf der Kampfhandlungen mag hier nicht von Bedeutung sein.
Eroberung und Rückgabe von Gebieten. All die intensiven Gefechte bis hin zur Aufgabe und abschließendem Salutschuss.

Diplomatie ist die Kunst einen Kuchen so aufzuteilen, dass jeder denkt, er hätte das größere Stück bekommen.
Hat der Ludwig Erhard mal gesagt.
Ich denke, letztendlich fällt die Entscheidung auf dem Platz.
Ist ne alte Fußballweisheit.

© by P.H.



Weltnachbarschaftstag und eimerweise Mousse au Putz
Es ist Zeit für eine Renovierung. Die Fototapete zeigt deutliche Verfärbungen. Verfärbungen an deren Herkunft ich mich gar nicht mehr erinnern kann und will. Außerdem scheint mir Pamela Anderson als Motiv nicht mehr ganz zeitgemäß. Stellenweise ist das Wandtextil sogar abgeblättert und offenbart einen mondartigen Untergrund.
"Verputzen", denke ich.
Aus der Kraterlandschaft soll eine Tafelebene entstehen.
Manchmal packt mich ja wirklich der Tatendrang.

Die Organisation der passenden Cerealien im Baumarkt meines Vertrauens ist schnell erledigt.
Das Enfernen der Tapete verläuft dann ebenfalls ziemlich problemlos.
In der Küche finde ich eine Flasche "Blaufelder Schädelspalter". Ein Präsent der örtlichen Bank zum Weltspartag 1974. Diesem fiesen Tropfen haben die Tapeten nichts entgegenzusetzen und lösen sich widerstandslos vom Untergrund.

Vorsorglich habe ich zwei Mischeimer erstanden. Einen davon nutze ich, um den Putz anzusetzen. Mit der rühraufsatzbestückten Bohrmaschine ein Kinderspiel. Das Zeug hat sehr schnell die erforderliche Konsistenz. Ein Zustand, der irgendwo zwischen cremig und sehnig anzusiedeln ist. Mousse au Putz oder so.

Wie ich da so stehe und die Heimwerkerseele zufrieden das Zwischenprodukt feiert, klingelt es an der Tür.
Wie immer unpassend.
Ich stiefel durch den Flur und öffne. Frau Dinkelmeier steht im Rahmen. Ihre Miene spiegelt pure Verweiflung wider.
"Ach, gut, dass sie da sind! Meine Enkel kommen morgen zu Besuch. Jetzt wollte ich einen Kuchen backen und musste feststellen, dass mir dazu Eier fehlen. Könnten Sie mir vielleicht aushelfen ?"
Dabei wirft sie mir einen herzerweichenden Blick durch die kristallaschenbecherartigen Gläser der Brille zu.
Ich nicke freundlich, bewege mich in die Küche, fische zwei Eier aus dem Kühlschrank und reiche sie ihr.
"Entzückend! Herzlichsten Dank, sie sind ein Engel!"
Sie grinst breit über ihre Hamsterbacken und schüttelt mir heftig die Hand.
"Ein Stück ist bereits für Sie reserviert."
Sie wirft mir noch einen verschwöhrerischen Blick zu, winkt und verschwindet im Treppenhaus.
Ich schließe die Tür.

Der Putz hat eine zähe Konsistenz angenommen. Auch die Zugabe von Wasser bringt keine wesentliche Veränderung.
Jetzt heißt es schnell zu sein. Also tauche ich die Kelle in die Masse....es klingelt an der Tür.

Herr Schnerzelbauer steht im Türrahmen. Rentner und selbsternanntes Kontrollorgan der Mietergemeinschaft. Typ Kissen auf dem Fensterbrett und ständig auf Beobachtungsposten. War früher sicher mal Radarfallenbetreiber.

"Sagen´se mal, ham´se auch den Krach heut´ Nacht gehört? Diese Frau Werling hatte wohl mal wieder Herrenbesuch. War nicht zu überhören."
Er wirkt ziemlich aufgebracht. Seine Schweinsaugen blitzen kampflustig unter den buschigen Ugenbrauen hervor.
Ich denke an die vergangene Nacht und den Spaß, den ich mit Merle hatte. Auf einer Skal von 1 bis 10 eine glatte 8.
"Ja, stellen Sie sich vor und es war mal echt geil."
Dabei grinse ich gespielt versonnen.
Seine Miene erstarrt und ich werfe die Tür zu.

Die Kelle ist nicht mehr aus der erhärteten Masse zu lösen. Mit einigen Schlägen auf den Griff kann ich sie dennoch aus der Umklammerung befreien.
Der andere Eimer muss nun herhalten. Ich rühre erneut das Gemisch an bis es die erwünschte Konsistenz aufweist.
Es klingelt.
Heute muss Weltnachbarschaftstag sein.

Ich trabe zum Eingang und öffne.
Frau Holt. Wird von allen inoffiziell Fr. Ewing genannt - in Anlehnung an J.R.
Genauso schmierig und ränkeschmiedend wie das Serienekel.
"Der Willi war doch gerade bei ihnen, gell ?"
"Willi?"
"Na, der Schnerzelbauer. Hat sich doch über die Werling ausgelassen."
Sie wirft mir einen verschwörerischen Blick zu und knufft mich in die Seite.
"Ich weiß das doch mit ihnen und der Werling."
Irgendwie ist mir diese Unterhaltung unangenehm und ich verspüre keine Lust auf die Fortsetzung des Dialoges.
"Wenn der heiße Streifen fertig geschnitten ist, lasse ich ihnen eine Exemplar zukommen", sage ich und werfe die Tür ins Schloss.

Der Putz ist zäh und dickflüssig.
Während ich noch weitere Schritte überlege, klingelt es an der Tür.
Merle lächelt mich verführerisch an.
Wir setzen das fort, was wir vergangene Nacht begonnen haben.

Es ist morgens, als ich einen Blick auf meine Baustelle riskiere.
In den Eimern starrt mich eine betonartige Masse an.
Mit dem Meisel lässt sich das Zeug herausschlagen.

Ich habe jetzt ein neues Geschäftsfeld.
Fertige Selbstschussanlagen aus erstarrtem Feinputz und verkaufe die bei eBay.

© by P.H.