Freitag, 14. Oktober 2011
Filterlose, Bohnensaft und Weltraumschrott
Trevor wusste, dass er unter einem Helfersyndrom litt. Nach seinem Empfinden war das allerdings ziemlich untragisch, denn zu einer Existenzentfremdung hatte es ihn bisher noch nicht getrieben - im Gegenteil. Gerade diese Charaktereigenschaft war es, die ihn in seinem privaten Biotop zu einem durchaus geschätzten Mitwesen kürte. Klar, nichts, was er jemals als Zielvorgabe in seiner Lebensagenda erfasst hatte, aber mit wohltuender Bauchwärme entgegennahm. Genau diese war es aber, die sich in dem Augenblick gar nicht einstellen wollte, als er am Rande der Straße stand und jene ältere Dame auf den Schultern trug, die ihn wenige Minuten zuvor angesprochen hatte:
„Ach, junger Mann, wären Sie so freundlich und würden mir über die Fahrbahn helfen?“
Selbstverständlich konnte Trevor diese Bitte nicht abschlagen und hatte nach oberflächlicher Inspektion ihrer körpereigenen Mobilausstattung kurzerhand einen Entschluss gefasst - hoch zu Mensch sollte die Lady ihr Ziel erreichen. Und nur seinem ausgezeichneten Trainingszustand sowie ihrem Federgewicht war es schließlich zu verdanken, dass der menschliche Aufbau selbst die Mittelleitplanke der 8-spurigen Autobahn ohne Abwurf überwinden konnte. Beide waren dabei so auf die Bewältigung der Herausforderung fokussiert, dass sie nicht einmal Gehör für die wütenden Hupkonzerte vorbeiziehender Asphaltdampfer fanden.

„Warum wollten Sie eigentlich auf die andere Seite?“, presste Trevor schnaufend hervor, als sie die Fahrbahn überquert hatten und er in die Knie ging, um der Lady den Abstieg zu ermöglichen.
„Wissen Sie, die dort drüben hatten meine Zigaretten nicht im Sortiment. Filterlos, von einer Marke, deren Name nicht genannt werden darf. Der freundliche Herr an der Kasse wies dann aber darauf hin, dass ich diese auf der anderen Seite erhalten würde“, antwortete die Dame erregt, während sie an ihrem Kleid zupfte, das durch den Transport die vorgesehene Fassung verloren hatte. Trevor richtete sich wieder auf und nickte verständnisvoll.
„Nun, dann werden Sie aber auch wieder zurück müssen. Vermute, ihr Wagen ist, ebenso wie meiner, drüben geparkt“, bemerkte er.
„Ja, wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie einen Moment warten würden, während ich kurz meine Besorgung erledige. Den Rückweg könnten wir dann abermals gemeinsam antreten.“
Trevor lächelte die Dame freundlich an, während er tief Luft in seine Lungen sog. Mit einem Handzeichen gab er ihr zu verstehen, dass er warten würde. Sie drehte sich herum und schlurfte zu dem Raststättenshop. Minuten vergingen und nach einiger Zeit sah sie Trevor wieder aus dem Laden treten. Deutlich konnte er den entspannten Ausdruck ausmachen, der sich sogleich auf ihrem Gesicht breit machte, als sie eines der Nikotintorpedos aus dem soeben erworbenen Päckchen fischte und zwischen die Lippen schob.

Der Rückweg gestaltete sich dann ähnlich unkompliziert wie der Hinweg. Wieder zurück am Ausgangspunkt, begleitete Trevor die Dame noch zu ihrem Fahrzeug, das sich als reinrassiger Sportwagen mit einer Motorisierung erwies, die selbst einem Kreuzfahrtschiff gut zu Gesicht gestanden hätte. Herzlich schüttelte sie ihm die Hand, bevor sie in das PS-Monster einstieg, den Wagen startete und mit quietschenden Reifen schwarze Streifen auf dem Asphalt hinterließ. Während Trevor ihr nachwinkte, genoss er das wärmende Bauchgefühl, das sich bei ihm einzustellen begann.

Jeden Tag eine gute Tat, dachte er noch, als er sein Gefährt bestieg und nach Hause steuerte. Der dichte Feierbandverkehr und die Begegnung mit der alten Dame ließ ihn später als gewohnt sein Heim erreichen. Dennoch schien es, als sei ihm das Glück heute gewogen, denn trotz fortgeschrittener Tageszeit konnte er noch einen Parkplatz in Hausnähe ergattern.

Beherzt nahm er die Stufen des Treppenhauses und hatte beinahe die Wohnung im zweiten Stockwerk erreicht, als er von Frau Dinkelhuber abgefangen wurde. Frau Dinkelhuber war eine Dame, die inzwischen auf acht Jahrzehnte erfüllten Lebens zurückblickte und in den in den Räumlichkeiten über den seinen residierte. Trevor wusste um die zunehmende Vereinsamung unter der die alte Dame, seit dem Ableben ihres Mannes, litt. So pflegte er, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihr ein Ohr zu leihen. Da seine Abendgestaltung an diesem heutigen Tag eher von unkonkreter Natur war, beschloss er spontan, sich der der Jugendzeit enteilten Dame anzunehmen. Und so kam es, dass er wenig später in ihrer Küche saß – bei einer Tasse schwarzen, heiß dampfenden Kaffees. Während sie genüsslich den frisch gepressten Bohnensaft schlürften, mühte sich Trevor redlich, Frau Dinkelhubers Worten zu folgen. Anders als gewöhnlich kreisten die Sätze diesmal aber nicht um ihren einsamen Alltag und Kindern, die in weiter Ferne sesshaft geworden waren, so dass sich der Kontakt nur noch auf wenige Besuche zu Feiertagen und sporadischen Telefonaten beschränkte. Heute war es anders. Trevors Augen weiteten sich zu Untertassengröße, als Frau Dinkelhuber von Hormonen und weiblichen Bedürfnissen berichtete.
„Ist mir schon aufgefallen, wie Sie mich ansehen und an meinen Lippen hängen“, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern, „kein Poblem. Ich bin alleine, Sie sind es und“, fügt sie mit einem Seufzer an, „es ist sehr lange her.“
Trevor dachte kurz nach.
Für Kanzlerin und Vaterland, schoss es ihm durch den Kopf.
„Geht in Ordnung“, sagte er dann, „lassen Sie uns das Bett teilen.“

Ungewohnt war es schon, eine Dame zu küssen, die sich ihrer Dentalbereifung entledigt und einem Brausebad auf dem Nachttisch zugeführt hatte. Ebenso bedurfte es einiger Rücksichtnahme auf die anatomischen Gegebenheiten während des Liebesspiels. Nicht mehr alle Körperteile waren Originalausstattung, wie Trevor im Verlaufe der Nacht erfuhr. Dennoch empfand er die Stunden mit ihr als durchaus befriedigend und lehrreich. Frau Dinkelhuber war eine erfahrene Gegenspielerin mit dominanter Ader, die ihm wohliges Behagen bereitete. Und ganz in der Obhut ihrer wissenden Hände, wurde es zu einem erfüllenden Erlebnis für beide Seiten.

Trevor erwachte am nächsten Morgen, als frischer Kaffeeduft die Wohnung durchflutete.
„Wir sollten reden“, sagte Frau Dinkelhuber während er am Küchentisch Platz nahm.
„Sie sind nett, jung und attraktiv, aber ich suche keine Beziehung. Hoffe, das ist kein Problem für Sie. Mag Sie wirklich nicht enttäuschen, aber für ein Zweitverwertungsrecht bin ich noch nicht bereit“, brach es aus ihr hervor und dabei schaute sie ihn mit ernster Miene an.
Sicher“, entgegnete Trevor und hoffte, seine Kukident - Mata Hari würde nicht den Lärm herabstürzender Granitbrocken vernehmen, die gerade von seinem Herzen fielen, „geht in Ordnung. Hatte keinerlei Erwartungen.“
Frau Dinkelhuber lächelte sichtlich erleichtert und begann ein Frühstück zu bereiten, das sie sich anschließend mit großem Appetit und in entspannter Atmosphäre zuführten. Der Morgen war bereits im Begriff, dem Vormittag zu weichen, als Trevor sich verabschiedete und seine Wohnung aufsuchte, um sich für den Arbeitstag zu rüsten.

Den Tag in der Firma verbrachte er mit den üblichen Aktenbergen und den ebenso üblichen Ablehnungsbescheiden. Unzählige Anfragen zur Erstattung von Versicherungsschäden, die über die Jahre seinen Schreibtisch passiert hatten. Inzwischen las er die Anträge nur noch stichprobenartig. Zumeist schob er das Standardbriefpapier in den Drucker, öffnete die Formularvorlagen an seinem Rechner und platzierte die vorbereiteten Textbausteine unter dem Logo seines Arbeitgebers.
„Freundlichst, Ihre Gentom -Versicherung“, so schlossen alle Schreiben. Trevor fand, dass diese Höflichkeitsformel beinahe ironisch wirkte und wollte sich die Reaktionen auf Empfängerseite gar nicht vorstellen. Dafür genoss er in den Führungsetagen höchstes Ansehen und durfte sich alljährlich über eine großzügige Prämie freuen, sorgte er doch für prächtige Gewinne in seiner Abteilung.
So verlief der Tag ohne nennenswerte Ausschläge auf der Ereignisskala und Trevor beschloss, den Feierabend in seiner Stammkneipe ausklingen zu lassen.

Nur wenige Straßen von seinem Heimathafen entfernt, betrieb Maria das „Einklang“. Eine Anlaufstelle für Einsame, Gestresste und Redselige aus der Umgebung, die sich dort regelmäßig zu kühlen Getränken und kleinen Speisen einfanden. Trevor fand den Laden nahezu entleert vor, als er ihn zu früher Abendstunde betrat. Lediglich ein einzelner Gast hielt einen der Stühle im kleinen Gastraum besetzt und war vollauf damit beschäftigt, die Currywurst auf dem Teller ihrer verdauungsgemäßen Bestimmung zuzuführen.
Trevor bezog einen Platz an der Theke und nickte lächelnd Maria zu, als diese einen Daumen nach oben reckte und ihm damit signalisierte, dass sie in Kürze ein schaumgekröntes Feierabendgetränk servieren würde.
Mit wohlwollendem Blick verfolgte er Maria bei ihren Bewegungen. Betrachtete ihr langes, lockiges Haar, welches ihr hübsches Gesicht umrahmte. Das Aufblitzen der dunklen Augen, wenn sie einen Blick in seine Richtung warf und dabei die vollen Lippen zu einem Lächeln aufwarf. Trevor mochte Maria und war sich sicher, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Einige Minuten später traf die Hopfenbrause ein und als sie diese gekonnt in seine Reichweite platzierte sprach sie ihn an:
„Du hast mir doch mal erzählt, dass Du bei einer Versicherung tätig bist. Stell Dir vor, hatte da kürzlich einen Schaden bei meiner gemeldet. Was meinst Du, haben die geantwortet? Abgelehnt! Nichts, keinen müden Cent werde ich sehen. Ungeprüft eingestampft.“
Wütend schnaubte sie.
„Was war denn passiert?“, fragte Trevor.
„Weltraumschrott. Hat das Dach von meinem Haus durchschlagen und die Badewanne zertrümmert.“
„Du scherzst?“, entgegnete Trevor.
„Sieht das wie ein Scherz aus?“, antwortete Maria und griff unter die Theke. Sie beförderte einen Gegenstand nach oben und warf ihn auf die Theke. Das Ding schepperte laut, als es auf das Holz prallte und Trevor konnte erkennen, dass es sich um ein metallisches Gebilde handelte. Ursprünglich Teil eines größeren Objektes, wie die ausgefransten und von Ruß überzogenen Ränder erahnen ließen. Er griff nach dem Gegenstand, um die Zeichenfolge zu lesen, die die Oberfläche zierte: „CCCP“, gefolgt von einem Stern. Verblasst, aber deutlich sichtbar waren die Buchstaben zu erkennen.
Einigermaßen überrascht betrachtet Trevor das Objekt.
„Sag mal, bei welchem Unternehmen bist Du denn versichert?“
„Gentom heißen die Gangster.“
Trevor hüstelte und nahm hastig einen Schluck aus dem Glas.
„Ok, gib mir mal die Unterlagen. Werde schauen, ob ich etwas erreichen kann.“
Maria griff erneut unter die Theke und beförderte einen Aktenstapel an die Oberfläche, den sie ihm zuschob.
„Danke, wäre echt großartig von Dir.“
Sie lächelte ihn an, beugte sich über die Theke und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Trevor genoss die Bauchwärme, die sich in ihm ausbreitete und selbst dann noch anhielt, da er den Kopf auf das Kissen im heimischen Bett legte und zu träumen begann.

Als er am nächsten Tag seinen Arbeitsplatz aufsuchte, verzichtete Tevor auf den Einsatz von Textbausteinen. Alle eingehenden Anträge beschied er positiv. Das tat er auch an den folgenden Tagen und Wochen. So lange, bis die Führungsetage auf seine Aktivitäten aufmerksam wurde und ihm den Austritt nahe legte.

Maria erhielt in der Zwischenzeit einen Bescheid von ihrer Versicherung, in dem sie einen Irrtum einräumte und nun doch für den entstandenen Schaden aufkommen wollte. Von der erstatteten Summe ließ sich Maria einen Whirlpool installieren und lud Trevor zu einem Probebad ein, das dieser in ihrer Gesellschaft genoss.
Das wiederum führte zu dem Beginn einer leidenschaftlichen und andauernden Verbindung, in deren Verlauf aus dem Sachbearbeiter eines namhaften Versicherungsunternehmens ein Kneipenwirt mit Leib und Seele wurde.

Hilfsbereitschaft hin oder her - Geschenke wurden im „Einklang“ nicht verteilt. Der Neue hinter der Theke wusste nur allzu gut mit Zahlen umzugehen, aber wer ein offenes Ohr oder eine brauchbare Currywurst suchte, der konnte dort fündig werden.
Die Nutzungsrechte für Trevors horizontalen Maßnahmenkatalog gegen weibliche Unterleibsdepressionen hat sich allerdings Maria exklusiv gesichert.



Dienstag, 29. März 2011
Von den Socken
Bisher blieb mir für Betroffene nicht mehr als ein müdes Lächeln, jetzt lässt es sich nicht mehr leugnen – ich bin Opfer. Opfer der WSE. Mitleidende werden wissen, wovon ich rede: Der waschmaschinenbedingten Sockenelimination.

Mit erschreckender Klarheit wird mir dieses bewusst, als ich gerade eben unbestrumpft in dem Schuhmarkt meines Vertrauens gastiere.
„Die hier - 100% Baumwolle, schwarz und mit verstärkten Nähten.“
Sie schwenkt einen Packen Fußhüllen vor meinen Augen und kaut dabei Kaugummi, als wollte sie diesen in seine atomaren Bestandteile zerlegen.

Schuhverkäuferinnen sind eine besondere Spezies, denke ich noch und blicke amüsiert in ihre großen Kulleraugen, die aufmerksam meine Reaktion verfolgen als würden sie ein großes Geschäft wittern. Kaum zu erwarten bei dieser Fernostware.

„Bummerangsocken würde ich benötigen, aber die sind auch ok.“
„Hääh?“
Ihre Augen haben inzwischen annähernd Kaffeepadgröße erreicht und das Mahlen des Kiefers wirkt irgendwie hektisch.
„Was soll denn das sein?“
„Na ja, Socken, die immer wieder zu ihrem Besitzer zurückkehren“, meine ich mit todernster Miene.
Sie lächelt gekünstelt und ihr Blick scheint mich der Hirndielenfraktion zuzuordnen.
„Dann nehme ich diese. Geben sie mir zwei von dem Fünfer-Pack.“

Kullerauge fischt die Ware aus dem Regal und bewegt sich mit einladendem Hüftschwung zur Kasse, wo sie mich gekonnt um den geforderten Bargeldbetrag erleichtert.

Erfreut wende ich mich dem Ausgang zu – ganz in luftiger Erwartung, das Ende der barfüßigen Zeit einzuläuten.

Zu Hause ist es ruhig. Die Schublade, in der sich einst eine bunte Sockenschar tummelte, blickt mich aus leerer Untiefe traurig an. Tröstend streiche ich über das Holz und spende dem Fach aufmunternde Worte, die von einer Neubesiedelung künden.

Ungepflegt soll die Wohnstätte allerdings nicht bezogen werden – Zeit für ein Vollbad in der Waschmaschine.
Widerstandslos lässt sich die Fremdkörperfalle mit einigen gebrauchten sowie den fabrikneuen Textilien füttern und nimmt, nach Zusatz von Reinigungsbeschleunigern, willig ihren Dienst auf.

Während die Kleiderschleuder rotierend ihrer Bestimmung folgt, gönne ich mir eine Auszeit und zappe mich durch Entertainmentkloake des Kanalreiters. Irgendwelche Teenies dissen andere Teenies, Paare bewerfen sich mit Omas Porzellan und Experten diskutieren über die gesundheitlichen Folgen von Erdstrahlen. Keine Überraschung bei der Bilderfürsorge.

Irgendwann bebt der Boden. Tektonische Plattenbewegungen als Ursache schließe ich spontan aus und warte daher gelassen das Ende des Schleuderganges der Waschmaschine ab.
Wenige Minuten und eine abstruse Gerichtsverhandlung später kehrt Stille ein und ich mache mich auf den Weg, um die gesäuberten Textilien der Trommel zu entnehmen.

Hosen, Shirts und Unterwäsche gleiten durch meine Hände. Etwas fehlt. Frustriert halte ich inne - von den Socken keine Spur. Verzweifelt und kopfwärts in der Maschine wird die Trommel einer Inspektion unterzogen. Kühl, beinahe hämisch glänzt mich das Metall an. Kalte Leere. Nichts. Die neuen Fußgewänder bleiben verschollen.

Resigniert sammele ich die feuchten Textilien ein und klemme sie an die Leine. Mein Leben erscheint mit einem Mal leer und strumpflos. Sockenkrise pur.

Es ist spät am Abend, als ich ermattet das Bett aufsuche, um mich in den Schlaf zu weinen. Kaum hat jedoch mein Kopf Kissenkontakt aufgenommen, fallen die Augen zu und tiefer Schlaf ergreift von mir Besitz.
In dem Traum bin ich ein Fuß und betrete das verborgene Reich waschmaschineneliminierter Socken. Es ist eine fröhliche und bunte Welt. Weiße Tennissocken mit blauen Streifen in friedlicher Koexistenz neben Kniestrümpfen. Snoopy-Söckchen und Micky Maus-Strümpfe harmonisch vereint. Alle toben, lachen und schmeicheln meinen Zehen.

Ein blauer Wollsneaker ist es schließlich, der mir dann von Portalen erzählt, die manche Waschmaschinen öffnen und Socken den Übergang in diese Welt ermöglichen. Irgendwie berührt es mich und lässt meinen Kummer verfliegen.

Als ich wieder wach werde, lacht die Sonne vom Himmel und lässt mich einen Entschluss fassen: Meine Klamottenschleuder wird nun zum Tor in die Sockendimension.
Von diesem Tage an ermögliche ich Fußtextilien regelmäßig den Übergang in eine andere Sphäre. Eine Aufgabe, die mich mit beglückender Zufriedenheit erfüllt.

Kullerauge hat sich inzwischen an meine wöchentlichen Besuche gewöhnt und hält stets unterschiedliche Modelle für mich griffbereit. Irgendwann werde ich sie zum Essen einladen und ihr von anderen Welten erzählen. Vielleicht wird sie es verstehen und möglicherweise sogar hin und wieder für mich waschen.
Also nur Socken. Ist bitterkalt - so ganz ohne im Winter.

© by P.H.



Mittwoch, 23. März 2011
>>PIEP<<
Der Wecker nervt. Gibt jammernde Geräusche von sich. Einen penetranten
Piepton, als könnte er es nicht ertragen, mich schlafend zu sehen.

Träge lasse ich meine Hand auf den Wach-Schalter fallen. Glatt gelogen. Von
wach kann nicht die Rede sein, aber anders wird sich der Bursche nicht zum
Schweigen lassen bringen.

In einem Zustand zwischen Tiefschlaf und horizontalem Stehen beobachte ich
aus der Ferne, wie sich mein Körper erhebt, in die Küche schlurft und Kaffee
bereitet. Morgendliche Routinetätigkeit. Tausendfach absolviert und für
halbwegs geeignet befunden, um sich einem wachartigen Stadium anzunähern.

Die für den heutigen Tag geplante Garderobe droht in Gefahr zu geraten, da
die Jeans noch Restfeuchtigkeit aus dem vorangegangenen Waschprogramm
exportiert hat. Das Kurzprogramm des Trockners wird sie in Tragebereitschaft
versetzen. Schnaufend läuft die Maschine an und verschafft mir die nötige
Zeit, um ein komprimiertes Pflegeprogramm zu absolvieren.

Auf dem Weg in das Hygienezentrum füttere ich die Mikrowelle mit einigen
Brötchen aus dem Tiefkühler. Auftauen und Grillen. Ein Hoch auf die
fabelhafte Welt der modernen Lebensmittelbereitung.

Unter der Dusche verkünden schüchtern einige Lebensgeister von ihrer
Existenz. Allmählich kehrt das Licht- und Farbempfinden zurück und während
ich noch Wasserreste mit dem Handtuch beseitige, klingen Geräusche aus der
Küche, die von der Fertigstellung gestarteter Aufträge zeugen.

Die Kaffeemaschine piept und weist mich nervös auf ihren Status hin. Ich
schalte sie aus, greife nach einer Tasse und wende mich dem Kühlschrank zu,
um diesem etwas Milch zu entnehmen. Der frostige Kollege piept aufdringlich,
weil bei vorangegangener Entnahme der Mehlprodukte die Klappe von mir nicht
sachgemäß geschlossen wurde. Nun meckert der Bursch über steigende
Temperaturen. Pingeliges Teil. Trotz Behebung des Problems tönt er weiter.
Finde den Schalter zum Deaktivieren des Signales nicht.

Das Handy piept und weist mich auf einen bevorstehenden Termin hin.
Arztbesuch am Nachmittag. Check beim Heilkundigen für Kopfflossen. In der
letzten Zeit werde ich immer wieder von lästigen Pieptönen heimgesucht.

Apropos Piepen. Das lässt nun auch der Trockner hören und meldet damit
Vollzug.
Die Jeans ist in einem tragbaren Zustand. Ich entnehme das Beinkleid und
schlüpfe hinein.
Irgendwo piept es und die Ortung gelingt mir nicht auf Anhieb. Erst nach
einigen Irrläufen lässt sich der Wecker als Quelle ausmachen. Das
aufdringliche Biest will sich nicht mit meiner offensichtlichen Bettferne
begnügen und mahnt erneut zur Wachsamkeit. Die Taste zur dauerhaften
Schweigsamkeit lässt sich nicht finden.

Liegt zu großen Teilen daran, dass Rauchschwaden durch die Luft ziehen. Dies
geht Hand in Hand mit einer spürbaren Abnahme der allgemeinen Sicht- und
Luftqualität. Panik erfasst mich auf dem Weg zur Küche. Durch die
Nebelschwaden ist das Piepen der Mikrowelle zu hören. Nachdem der Weg zu der
Maschine ertastet ist, entnehme ich die qualmenden Brötchenbriketts der
Maschine und beschließe sie der nächsten Grillveranstaltung als
Holzkohleersatz zuzuführen.

Das Handy piept erneut und kündet freudig vom Empfang einer SMS. Irgendeine
Werbung. Hausratsversicherung oder so.

Der Kühlschrank sendet weiterhin seine monotone Botschaft und erneut schlägt
der Wecker an. Ich öffne das Fenster und entlasse die Rauchschwaden in die
Freiheit. Dabei versuche ich mich in einen seelenbaumelnden Zustand zu
versetzen. Das tiefe Durchatmen lässt mich allerdings in heftige
Hustenattacken verfallen. Unter gehauchter Pressatmung schließe ich die
Augen und zähle leise vor mich hin. Bei 497 ertönt lautstarkes Piepen.
Beinahe ein Heulen. Spät, aber bestimmt meldet sich der Rauchmelder im Flur
zu Gehör. Billigware aus dem Baumarkt. Sonst ein schweigsamer Geselle,
verfällt er nun in aufdringliche Anwesenheitsbekundungen.

In meinem Kopf tönt und pfeift es, als wäre die Jamba-Zentrale zwischen den
Ohren. Aus der Kehle dringt trockenes Lachen, das von resignativer
Verzweiflung zeugt.
Mit letzter Kraft taste ich nach dem Handy, um der Dispoberaterin meiner
Hausbank einen letzten Willen zu formulieren. Die Pläne scheitern, weil das
Handy noch einmal piept, um mir seinen kritischen Ladezustand zu
signalisieren und erlischt anschließend.

Irgendwo ertaste ich den Autoschlüssel und stürze aus der Wohnung.
Wohltuende Stille umgibt mich auf dem Platz hinter dem Steuer. Der Motor
startet und im selben Moment ist eine blinkende Warnlampe auf dem Display zu
sehen. Treibstoffvorrat neigt sich dem Ende zu. Der Kollege zapft nun die
Reserven an. Das Piepen mahnt mich zum baldigen Tankstellenbesuch.

Den verschiebe ich, lasse den Wagen am Waldrand stehen und flüchte in die
stille Einsamkeit der Natur. Irgendwo auf einer Lichtung findet sich ein
Platz zur besinnlichen Einkehr. Setze mich dort nieder und genieße die
Abwesenheit jeglicher Warnsignale. In naher Ferne sehe ich einen Traktor
seine Bahnen über die Felder ziehen. Bei jedem Erreichen der Ackergrenze
piept die Landmaschine…

© by P.H.



Bunte Lichter
Manche Dinge ändern sich nie. Jahreszeiten zum Beispiel oder, dass die Ampel an der Ortsausfahrt immer rot schaltet, wenn sie meinen Wagen erspäht. Ist eine Gesetzmäßigkeit und stört inzwischen gar nicht mehr. Bin sogar daran gewöhnt und rege mich nur noch minimal auf. Also, über die Ampel.
Zudem bietet diese Tatsache immer wieder Gesprächsstoff bei weniger tiefschürfenden Plaudereien.
„Wie, Du musst da immer halten?? Ich nie.“
Dabei wirst du ungläubig betrachtet, als hättest du gerade ein Toast entwickelt, das, wider allen Naturgesetzen, niemals mit der gebutterten Seite nach unten zu Boden fällt.

Nein, ich nehme das nicht persönlich. Ist so ein Ding, das zur Gewohnheit wird.
Vergleichbar mit dem TV-Programm. Wenn du mal Lust auf Enterbrainment hast, dann flimmert nur Recyclingware über die Mattscheibe. Die Waltons oder so. Lagen beim Filmdiscounter im untersten Regal und werden nun als Blockbuster angepriesen.
Na ja, immer noch besser als Werbung für Milchschnitte, denke ich dann und erinnere mich an Zeiten, wo solches wirklich ein Highlight war. Weiß noch, wie die Familie gesammelt vor dem Kanalschwimmer saß, als Schweinchen Dick im Abendprogramm lief. Zeichentrick in Schwarz-Weiß und wir fanden es urkomisch. Dürfte heute wohl keinen Stich mehr machen gegen Power Rangers oder was aktuell an der Popcornfront gehandelt wird.

Das ist der Ampel natürlich latte. Also, der am Ortsausgang. Die ist sogar farbig und sendet immer. Tag und Nacht. Zugegeben - wenig abwechslungsreich und in meinem Fall sogar ziemlich vorhersehbar.
Nein, ist ok. Macht mir gar nichts.

Trotzdem war die Reaktion der Ordnungsmacht ziemlich überzogen. Letzte Woche, als ich wieder an die Kreuzung fuhr und stoppen musste. Die Fußtritte gegen die Ampel haben der nun wirklich nicht geschadet. Gut, das mit der Kettensäge war möglicherweise etwas überzogen, aber hätte da gleich der silberblaue Partybus vorfahren müssen? Blaulicht und jede Menge Schülerlotsen an Bord. Irrsinnig aufgeregt haben die sich. Vor allem, als die dann noch das Seil entdeckten, das ich um den Stromverteiler gewickelt und an meine Stoßstange geknotet hatte. Kam ja nicht mal zum Anfahren. Ziemlich disharmonisch wurden die. Von wegen versuchte Sachbeschädigung und so.
Lächerlich.

Die Einladung zum Friedensgipfel wollten die dann auch nicht annehmen. Dabei hätten wir mal ganz cremig einen Lungendübel mit Schuss kreisen lassen können.
Beste Ware. Hat mir kürzlich jemand im Bahnhofsklo zugesteckt.
Wollten die aber nicht.
Wurden sogar noch unentspannter.
Na ja, egal.
Ganz scharf waren die auf meinen Führerschein.
Ich gebe gerne, wenn ich habe. Bin da nicht so. Ließ ihnen das Ding also leihweise da. Taten mir irgendwie leid. Schienen kein eigenen zu haben.
Bekomme den auch wieder, meinte einer von denen. Irgendwann.

Jedenfalls fahre ich jetzt Fahrrad.
Saukalt, aber wahnsinnig gesund und außerdem kann ich die Kreuzung umfahren.
Ganz ohne Ampel.

© by P.H.



Montag, 21. März 2011
Trisexualität
Johanna trägt ein knallrotes Shirt mit weißer Aufschrift - "Open your mind".
Passt zu ihrem rabenschwarzen Haar und den dunklen Augen. Spannender Kontrast.
Sie setzt das Glas an und schüttet sich den Drink in die Kehle. Ein Gemisch aus Cola und Jim Beam. Keine Ahnung, wie viele von den Dingern schon den Weg in ihre Figur gefunden haben, aber mir wären inzwischen sämtliche Dichtungen abgesprungen.
Johanna grinst nur und schüttelt sich kurz.
"Bist ja ein brauchbares Stück Kerl. Meinst Du, es könnte passen?"
Ich zucke mit den Schultern und versuche ihrem unruhigen Blick zu folgen. Irgendwie gehetzt. Wandert ständig zwischen Theke und Kellner hin und her.

"Na ja, immerhin schreiben wir uns schon eine ganze Weile und dann die unzähligen Telefonate. Hatte den Eindruck, dass wir gegenseitige Zeitverwertungsrechte erheben könnten."
Ihre Augen verlieren an Fahrt und bleiben an meinen haften.
"Aber die entscheidenden Fragen haben wir noch nicht geklärt", entgegnet sie und setzt eine Miene auf, die Vertragsverhandlungen anzukündigen scheinen.
"Welche Fragen wären das?"
"Sex und so."
"Was ist damit?
Johanna beugt sich herüber und ihre Stimme senkt sich verschwörerisch.
"Wie ist denn Deine Ausrichtung?"
Ich vermute, dass die Frage nicht auf meine politische Gesinnung abzielt.
"Hetero...oder was meinst Du?"
Johanna lässt verächtlich Luft durch aufgeblasene Backen entweichen.
"Puh...wie öde. Wahrscheinlich kaufst Du sonntags auch noch Brötchen zum Frühstück..."
"Äh...ich mag frische Brötchen..."
Ihr Blick hat zerstörenden Charakter.
"Bin trisexuell."
"Hä?"
"Maaan", entfährt es ihr, "t-r-i-s-e-x-u-e-l-l."

Mir scheint, als würde die Achse der Unwissenheit mitten durch unseren Tisch verlaufen.
"Wie meinst Du das?"
"Könnte glatt meinen, Du bist geistig ein wenig minderbelüftet", spottet Johanna.
Offensichtlich hat sie meinen hilflosen Gesichtsausdruck bemerkt.
"Soll heißen, Männer, Frauen und mich. Trisexuell eben."
"Aha...da wird es aber eng im Schlafzimmer...."

Johanna schiebt den Stuhl zurück.
"Das wird dann wohl nichts mit uns", sagt sie und steht auf.
Eine kurze Verabschiedung, dann bewegt sich ihre Silhouette zum Ausgang.
Ich mag mich täuschen, aber mir scheint, als hätte sie dabei die Hand in ihrem Schritt.
Egal.
Am Sonntag gibt es Brötchen.
Frisch aus der Maschine. Warm und verboten lecker duftend.

© by P.H.



Schläfst du schon, oder schraubst du noch?
Gar nicht lange her, da ist mir eine dumme Sache widerfahren.
Fing damit an, dass mir der Sinn nach einem neuen Bett stand. Groß und bequem
sollte es sein. Nicht mehr dieses Lattengestell aus Zeiten, als wir noch Schlaghosen trugen.

Erste Anlaufstelle ist stets dieses schwedische Möbelhaus. Eines immer in deiner Nähe. Hier war es das in der Rudi Völler-Stadt.
Jedenfalls hatten die da ein gefälliges Modell im King Size-Format. Keine Ahnung, wie das Ding hieß. Wasa Mjölk-Bett oder so.

Also machte ich mich auf den Weg und schoss die Beute in dem Laden.
Übliches Spiel: Wuchtest das Biest auf den Hackenporsche und tingelst zum Wagen.
Anschließend stehst du zusammen mit anderen Möbel-Waidmännern im Parkhaus und
versuchst fluchend das sperrige Unding in den Ladeschlund deiner Benzinkutsche zu drücken.

Ging natürlich nicht. Manche Männer kennen das Problem, wenn die entscheidenden Zentimeter wieder fehlen.
Ok, klingt jetzt irgendwie zweideutig, meine aber selbstverständlich die Kofferraumluke.
Wie auch immer - unter Abwurf der Umverpackung konnte ich die erlegten
Innereien erfolgreich verstauen und den Weg zur heimischen Höhle antreten.
Dort angekommen, ging es sogleich an die Errichtung der neuen Schlafstätte.
Schien mir keine sonderliche Herausforderung an einen talentierten Heimwerker. Also mich.
Nach eingehendem Studium der Anleitung stand dem Aufbau nichts mehr im Wege und so begann das Produkt alsbald Formen anzunehmen.

Unzählige Flüche später war das Werk vollendet und erstrahlte in voller Pracht. Eigentlich ein herzerwärmender Moment. Eigentlich. Wäre das Ergebnis nach meinen Vorstellungen gewesen.
War es aber nicht, weil zum Liegen völlig ungeeignet. Also, der Schuhschrank.
Nicht, dass ich etwas gegen Schuhschränke hätte, pflege ein harmonisches Verhältnis zu diesen, aber irgendwie hätte das Ergebnis ein anderes sein sollen.

„Kein Grund zur Verzweiflung“, sagte ich mir, „die Jungs von der Inbusfront werden das wieder gerade bügeln.“
Stieg also in meinen fahrenden Wertstoffhof und suchte erneut die skandinavische Holzwurmbehausung auf.

An der Reklamationssammelstelle ein strohblonder Jungspund mit Harry Potter-Brille hinter der Theke. Ziemlich aufgeweckt und engagiert. Hörte sich mein Anliegen aufmerksam an.
„Nicht ihr Ernst??“
Leider völlig ohne diesen lustigen Schwedenakzent und schaute mich dabei an, als hätte ich ihm gerade berichtet, der erste gebärende Mann zu sein.
„Doch. Falscher Leitfaden. Klare Sache.“
Zur Beweisuntermauerung wurden einige Aufnahmen von mir präsentiert, die ich zuvor vorsichtshalber mit dem Handy geschossen hatte.
„Ja, aber wie konnten sie das dann mit dem Material..?“
„Vorstellungskraft und Kreativität.“
Kopfschüttelnd verschwand er hinter der Theke und tauchte einige Minuten später mit einer Aufbauanleitung an, die er mir übergab. Immer noch kopfschüttelnd. Dabei murmelte er etwas von einem hauseigenen Kuriositätenmuseum.
Ich bedankte mich höflich und trat die Rückreise an.

Zu Hause angekommen, ging es frisch ans Werk. Zunächst die Demontage, dann erneuter Aufbau.
Wiederum unter Einsatz handelsüblicher Flüche und oraler Zufuhr von kühlem Hopfenblütentee.
Am Ende stand das Bett. Wirklich.
Ein doppelstöckiges. Wie diese in den Jugendherbergen.
Ganz und gar nicht nach meinen Vorstellungen.
Schlafzimmer mit Kasernencharakter will doch kein Mensch.

Naja, die Sache hatte dann doch noch ein zufriedenstellendes Ende.
Auf meinen Reisen durch das Netz der unbegrenzten Möglichkeiten fand ich eine Seite mit Menschen in ähnlichen Notlagen. Allesamt Opfer fehlerhafter Aufbauanleitungen. Von der Gesellschaft geächtet und belächelt. In ihrer Verzweiflung haben diese eine Tauschbörse eingerichtet. Dort wurde ich fündig. Bei einer freundlichen Dame, die einen Garderobenständer erworben hatte und nach der Montage ein King Size-Bett vorfand. Taugt zwar als Kleiderablage, macht den Flur aber unbegehbar. Sie zeigte sich erfreut über das Tauschangebot, konnte sie doch deutlichen Raumgewinn verbuchen.

Wie auch immer – Anleitungen traue ich nicht mehr über den Weg.
Echt jetzt.

© by P.H.



Denkarium
Es gibt Dinge, die haben eine eigene Play-Taste. Wenn die dir dann vor die Füße fallen, startet automatisiert eine Art Erinnerungstrack.
Mein blauer Wollpullover ist so ein Ding. Der mit dem großen, gelben Woodstock auf der Brust.
Nicht, dass ich ihn noch oft tragen würde. Tatsächlich eher gar nicht mehr, aber das ist auch egal.
Eine Freundin strickte mir diesen.
Manchmal gerät er mir zwischen die Finger, dann streiche ich darüber und muss lächeln. Bilder beginnen zu tanzen. Bilder aus luftigen Zeiten, die wie aus einem anderen Leben erscheinen.
Laute, beathaltige Musik zu Rauchwaren, die ein süßliches Aroma in der Luft hinterließen und blitzende Augenpaare mit verlangendem Ausdruck.

Dann höre ich hin und wieder alte Songs im Radio. Uriah Heep, Bee Gees oder so.
Kann schon sein, dass mir in diesem Moment ein großes Partyzelt vor dem geistigen Auge erscheint. Das Mädchen in den Armen, welches ich damals für die wunderbarste Schöpfung auf Erden hielt.
Wir tanzten, besser stolperten, gemeinsam. Jedenfalls ziemlich eng umschlungen. Beide von dem Moment berauscht.
Ihren Namen weiß ich sogar heute noch. Nicht aber, wohin es sie getragen haben mag.

Dann sehe ich manchmal einen alten Wagen über die Straße rollen. Opel Kadett C. Meiner war Baujahr 76. Autobahnschildblau, so die Farbdiagnose eines Freundes.
Immerhin 160km/h schaffte er mit ordentlichem Anlauf .Auch auf der Fahrt nach München und das, obwohl er voll besetzt war.
Vier Kerle zu einem Kurztrip in die Landeshauptstadt. Reichlich Alkohol und lockere Sprüche auf der Agenda.
Fragt mich heute nicht mehr nach Details. Darüber liegt ein promilleschwerer Nebel des Verblassens.
Den ein oder anderen treffe ich heute noch. Dann erinnern wir uns lachend und es ist, als sei es gestern gewesen.

Professor Dumbledore, der aus den Harry Potter-Romanen, besitzt ein "Denkarium". Eine Steinschale, in der Erfahrungen ablegt werden. Dabei zieht er diese wie Silberfäden aus seiner Schläfe. Ein probates Mittel gegen den immer voller werdenden Kopf. Macht das Oberstübchen frei und lässt klarer blicken, so seine Meinung.
Wäre nicht nach meinem Geschmack. Kaum eine Erinnerung, die ich hergeben wollte und irgendwie gehören die zu mir. Lassen mich Dinge auf meine Weise betrachten.
Vielleicht so wie ein Kaffeefilter, den ich mit meinem Erlebten fülle und Eindrücke darüber laufen lasse.
Das, was sich dann im Behälter sammelt, ist mein persönliches Destillat. Ich mag es heller und gebe Milch hinzu. Manchmal sogar Zucker - wenn mir gerade nach süß ist.
Es schmeckt und belebt mich.
Tag für Tag.

© by P.H.



Samstag, 26. Februar 2011
Ware Mann
Ist gar nicht lange her, da hatte mich mal eine Frau bei eBay ersteigert. Also, nicht wirklich mich, aber ein Date. Hatte bei 3,05 € den Zuschlag bekommen.
Ne, das Geschäft rechnete sich nicht. Wirklich nicht. Mache ich auch nie wieder. Alleine die Fahrtkosten überstiegen den Gewinn. Musste extra in den Norden reisen. War irgend so eine Stadt am Wasser. Mit Hafen, Fischmarkt und roter Vergnügungsmeile. Keine Ahnung, Name ist mir entfallen.

Jedenfalls lief ich da also in die vereinbarte Spelunke ein. "Zum einäugigen Schweden" oder so. Ziemlich ruhig. Kaum Betrieb, nur einige überhopfte Typen unter den Tischen, die selig ihre Promille abatmeten.
Habe dann auch prompt einen Krug Helles bei der drallen Kellnerin bestellt und genüsslich den Kehlenfasching eingeläutet.

Dauerte gar nicht lange und da ging auch schon die Tür. Kam die meistbietende Tante hereinspaziert. Korrekter Auftritt. Rosa Stiefel über gelbe Leggins und lila Schlabbershirt. Echt was für´s Auge. Dachte noch, dass die eigentlich nen Aufdruck tragen müsste - Vorsicht Epilepsiewarnung. Gut sichtbar auf dem Oberteil. Egal.

Setzte die sich also bei mich und zog gleich so ein Kopfspiegel auf. Sollte mal "Aahh" sagen. Ok, habe ich gemacht. Die schaute in meinen Mund, Nase und Ohren. Dabei kritzelte die immer irgendwelche Sachen auf einen Block. Dann zog die das Ding wieder aus und grinste zufrieden.
Im nächsten Moment fing die an und stellte Fragen. Las die von einem Papier ab und machte Kreuze.
"Heterosexuell?"
"Ja."
"Sex?"
"Von mir aus."
"Wie oft im Jahr?"
"In Schaltjahren gar nicht, in den anderen weniger."
"Rasiert?"
"Intimtoupe."

Naja, lauter so komische Sachen wollte die wissen.
Irgendwann war die dann fertig, zog einen Taschenrechner aus der Hose und fing an zu tippen. Las Zahlen von diesen Papierbögen ab und gab die ein. Das ging so einige Minuten, bis ihr Gesicht happy wurde und alles wieder in der Tasche verschwand.
"Wir sind kompatibel", meinte sie plötzlich.
Aha, ging es mir durch den Kopf, jetzt kommt es knüppeldick.
"Fahrprüfung bestanden oder etwas gewonnen?"
Sie nickte und schaute mich kritisch an.
"Hätte nichts dagegen, mit Dir mal etwas Sahne auf die Torte zu geben."

Also mir ging das echt zu schnell. Ich brauche da immer etwas Anlauf. Meinen Friseur habe ich auch erstmal einige Monate beobachtet, bevor der an meine Haare durfte. Hab den sogar Herrenfrisuren zur Probe bei meiner Mom schneiden lassen.
Ne, ich will das nicht.

Naja, sagte ihr also, dass wir es langsam angehen sollten. Konnte die aber gar nicht verstehen und zog die Mundwinkel nach unten. Pech. Stand also auf und trat den Rückzug an.
Beim Hinausgehen sah ich noch, wie die den Kopfspiegel wieder aufzog und einen von diesen Typen unter dem Tisch weckte.
Manche Frauen sind schon ziemlich neugierig.
Echt jetzt.

© by P.H