Filterlose, Bohnensaft und Weltraumschrott
Trevor wusste, dass er unter einem Helfersyndrom litt. Nach seinem Empfinden war das allerdings ziemlich untragisch, denn zu einer Existenzentfremdung hatte es ihn bisher noch nicht getrieben - im Gegenteil. Gerade diese Charaktereigenschaft war es, die ihn in seinem privaten Biotop zu einem durchaus geschätzten Mitwesen kürte. Klar, nichts, was er jemals als Zielvorgabe in seiner Lebensagenda erfasst hatte, aber mit wohltuender Bauchwärme entgegennahm. Genau diese war es aber, die sich in dem Augenblick gar nicht einstellen wollte, als er am Rande der Straße stand und jene ältere Dame auf den Schultern trug, die ihn wenige Minuten zuvor angesprochen hatte:
„Ach, junger Mann, wären Sie so freundlich und würden mir über die Fahrbahn helfen?“
Selbstverständlich konnte Trevor diese Bitte nicht abschlagen und hatte nach oberflächlicher Inspektion ihrer körpereigenen Mobilausstattung kurzerhand einen Entschluss gefasst - hoch zu Mensch sollte die Lady ihr Ziel erreichen. Und nur seinem ausgezeichneten Trainingszustand sowie ihrem Federgewicht war es schließlich zu verdanken, dass der menschliche Aufbau selbst die Mittelleitplanke der 8-spurigen Autobahn ohne Abwurf überwinden konnte. Beide waren dabei so auf die Bewältigung der Herausforderung fokussiert, dass sie nicht einmal Gehör für die wütenden Hupkonzerte vorbeiziehender Asphaltdampfer fanden.

„Warum wollten Sie eigentlich auf die andere Seite?“, presste Trevor schnaufend hervor, als sie die Fahrbahn überquert hatten und er in die Knie ging, um der Lady den Abstieg zu ermöglichen.
„Wissen Sie, die dort drüben hatten meine Zigaretten nicht im Sortiment. Filterlos, von einer Marke, deren Name nicht genannt werden darf. Der freundliche Herr an der Kasse wies dann aber darauf hin, dass ich diese auf der anderen Seite erhalten würde“, antwortete die Dame erregt, während sie an ihrem Kleid zupfte, das durch den Transport die vorgesehene Fassung verloren hatte. Trevor richtete sich wieder auf und nickte verständnisvoll.
„Nun, dann werden Sie aber auch wieder zurück müssen. Vermute, ihr Wagen ist, ebenso wie meiner, drüben geparkt“, bemerkte er.
„Ja, wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie einen Moment warten würden, während ich kurz meine Besorgung erledige. Den Rückweg könnten wir dann abermals gemeinsam antreten.“
Trevor lächelte die Dame freundlich an, während er tief Luft in seine Lungen sog. Mit einem Handzeichen gab er ihr zu verstehen, dass er warten würde. Sie drehte sich herum und schlurfte zu dem Raststättenshop. Minuten vergingen und nach einiger Zeit sah sie Trevor wieder aus dem Laden treten. Deutlich konnte er den entspannten Ausdruck ausmachen, der sich sogleich auf ihrem Gesicht breit machte, als sie eines der Nikotintorpedos aus dem soeben erworbenen Päckchen fischte und zwischen die Lippen schob.

Der Rückweg gestaltete sich dann ähnlich unkompliziert wie der Hinweg. Wieder zurück am Ausgangspunkt, begleitete Trevor die Dame noch zu ihrem Fahrzeug, das sich als reinrassiger Sportwagen mit einer Motorisierung erwies, die selbst einem Kreuzfahrtschiff gut zu Gesicht gestanden hätte. Herzlich schüttelte sie ihm die Hand, bevor sie in das PS-Monster einstieg, den Wagen startete und mit quietschenden Reifen schwarze Streifen auf dem Asphalt hinterließ. Während Trevor ihr nachwinkte, genoss er das wärmende Bauchgefühl, das sich bei ihm einzustellen begann.

Jeden Tag eine gute Tat, dachte er noch, als er sein Gefährt bestieg und nach Hause steuerte. Der dichte Feierbandverkehr und die Begegnung mit der alten Dame ließ ihn später als gewohnt sein Heim erreichen. Dennoch schien es, als sei ihm das Glück heute gewogen, denn trotz fortgeschrittener Tageszeit konnte er noch einen Parkplatz in Hausnähe ergattern.

Beherzt nahm er die Stufen des Treppenhauses und hatte beinahe die Wohnung im zweiten Stockwerk erreicht, als er von Frau Dinkelhuber abgefangen wurde. Frau Dinkelhuber war eine Dame, die inzwischen auf acht Jahrzehnte erfüllten Lebens zurückblickte und in den in den Räumlichkeiten über den seinen residierte. Trevor wusste um die zunehmende Vereinsamung unter der die alte Dame, seit dem Ableben ihres Mannes, litt. So pflegte er, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihr ein Ohr zu leihen. Da seine Abendgestaltung an diesem heutigen Tag eher von unkonkreter Natur war, beschloss er spontan, sich der der Jugendzeit enteilten Dame anzunehmen. Und so kam es, dass er wenig später in ihrer Küche saß – bei einer Tasse schwarzen, heiß dampfenden Kaffees. Während sie genüsslich den frisch gepressten Bohnensaft schlürften, mühte sich Trevor redlich, Frau Dinkelhubers Worten zu folgen. Anders als gewöhnlich kreisten die Sätze diesmal aber nicht um ihren einsamen Alltag und Kindern, die in weiter Ferne sesshaft geworden waren, so dass sich der Kontakt nur noch auf wenige Besuche zu Feiertagen und sporadischen Telefonaten beschränkte. Heute war es anders. Trevors Augen weiteten sich zu Untertassengröße, als Frau Dinkelhuber von Hormonen und weiblichen Bedürfnissen berichtete.
„Ist mir schon aufgefallen, wie Sie mich ansehen und an meinen Lippen hängen“, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern, „kein Poblem. Ich bin alleine, Sie sind es und“, fügt sie mit einem Seufzer an, „es ist sehr lange her.“
Trevor dachte kurz nach.
Für Kanzlerin und Vaterland, schoss es ihm durch den Kopf.
„Geht in Ordnung“, sagte er dann, „lassen Sie uns das Bett teilen.“

Ungewohnt war es schon, eine Dame zu küssen, die sich ihrer Dentalbereifung entledigt und einem Brausebad auf dem Nachttisch zugeführt hatte. Ebenso bedurfte es einiger Rücksichtnahme auf die anatomischen Gegebenheiten während des Liebesspiels. Nicht mehr alle Körperteile waren Originalausstattung, wie Trevor im Verlaufe der Nacht erfuhr. Dennoch empfand er die Stunden mit ihr als durchaus befriedigend und lehrreich. Frau Dinkelhuber war eine erfahrene Gegenspielerin mit dominanter Ader, die ihm wohliges Behagen bereitete. Und ganz in der Obhut ihrer wissenden Hände, wurde es zu einem erfüllenden Erlebnis für beide Seiten.

Trevor erwachte am nächsten Morgen, als frischer Kaffeeduft die Wohnung durchflutete.
„Wir sollten reden“, sagte Frau Dinkelhuber während er am Küchentisch Platz nahm.
„Sie sind nett, jung und attraktiv, aber ich suche keine Beziehung. Hoffe, das ist kein Problem für Sie. Mag Sie wirklich nicht enttäuschen, aber für ein Zweitverwertungsrecht bin ich noch nicht bereit“, brach es aus ihr hervor und dabei schaute sie ihn mit ernster Miene an.
Sicher“, entgegnete Trevor und hoffte, seine Kukident - Mata Hari würde nicht den Lärm herabstürzender Granitbrocken vernehmen, die gerade von seinem Herzen fielen, „geht in Ordnung. Hatte keinerlei Erwartungen.“
Frau Dinkelhuber lächelte sichtlich erleichtert und begann ein Frühstück zu bereiten, das sie sich anschließend mit großem Appetit und in entspannter Atmosphäre zuführten. Der Morgen war bereits im Begriff, dem Vormittag zu weichen, als Trevor sich verabschiedete und seine Wohnung aufsuchte, um sich für den Arbeitstag zu rüsten.

Den Tag in der Firma verbrachte er mit den üblichen Aktenbergen und den ebenso üblichen Ablehnungsbescheiden. Unzählige Anfragen zur Erstattung von Versicherungsschäden, die über die Jahre seinen Schreibtisch passiert hatten. Inzwischen las er die Anträge nur noch stichprobenartig. Zumeist schob er das Standardbriefpapier in den Drucker, öffnete die Formularvorlagen an seinem Rechner und platzierte die vorbereiteten Textbausteine unter dem Logo seines Arbeitgebers.
„Freundlichst, Ihre Gentom -Versicherung“, so schlossen alle Schreiben. Trevor fand, dass diese Höflichkeitsformel beinahe ironisch wirkte und wollte sich die Reaktionen auf Empfängerseite gar nicht vorstellen. Dafür genoss er in den Führungsetagen höchstes Ansehen und durfte sich alljährlich über eine großzügige Prämie freuen, sorgte er doch für prächtige Gewinne in seiner Abteilung.
So verlief der Tag ohne nennenswerte Ausschläge auf der Ereignisskala und Trevor beschloss, den Feierabend in seiner Stammkneipe ausklingen zu lassen.

Nur wenige Straßen von seinem Heimathafen entfernt, betrieb Maria das „Einklang“. Eine Anlaufstelle für Einsame, Gestresste und Redselige aus der Umgebung, die sich dort regelmäßig zu kühlen Getränken und kleinen Speisen einfanden. Trevor fand den Laden nahezu entleert vor, als er ihn zu früher Abendstunde betrat. Lediglich ein einzelner Gast hielt einen der Stühle im kleinen Gastraum besetzt und war vollauf damit beschäftigt, die Currywurst auf dem Teller ihrer verdauungsgemäßen Bestimmung zuzuführen.
Trevor bezog einen Platz an der Theke und nickte lächelnd Maria zu, als diese einen Daumen nach oben reckte und ihm damit signalisierte, dass sie in Kürze ein schaumgekröntes Feierabendgetränk servieren würde.
Mit wohlwollendem Blick verfolgte er Maria bei ihren Bewegungen. Betrachtete ihr langes, lockiges Haar, welches ihr hübsches Gesicht umrahmte. Das Aufblitzen der dunklen Augen, wenn sie einen Blick in seine Richtung warf und dabei die vollen Lippen zu einem Lächeln aufwarf. Trevor mochte Maria und war sich sicher, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Einige Minuten später traf die Hopfenbrause ein und als sie diese gekonnt in seine Reichweite platzierte sprach sie ihn an:
„Du hast mir doch mal erzählt, dass Du bei einer Versicherung tätig bist. Stell Dir vor, hatte da kürzlich einen Schaden bei meiner gemeldet. Was meinst Du, haben die geantwortet? Abgelehnt! Nichts, keinen müden Cent werde ich sehen. Ungeprüft eingestampft.“
Wütend schnaubte sie.
„Was war denn passiert?“, fragte Trevor.
„Weltraumschrott. Hat das Dach von meinem Haus durchschlagen und die Badewanne zertrümmert.“
„Du scherzst?“, entgegnete Trevor.
„Sieht das wie ein Scherz aus?“, antwortete Maria und griff unter die Theke. Sie beförderte einen Gegenstand nach oben und warf ihn auf die Theke. Das Ding schepperte laut, als es auf das Holz prallte und Trevor konnte erkennen, dass es sich um ein metallisches Gebilde handelte. Ursprünglich Teil eines größeren Objektes, wie die ausgefransten und von Ruß überzogenen Ränder erahnen ließen. Er griff nach dem Gegenstand, um die Zeichenfolge zu lesen, die die Oberfläche zierte: „CCCP“, gefolgt von einem Stern. Verblasst, aber deutlich sichtbar waren die Buchstaben zu erkennen.
Einigermaßen überrascht betrachtet Trevor das Objekt.
„Sag mal, bei welchem Unternehmen bist Du denn versichert?“
„Gentom heißen die Gangster.“
Trevor hüstelte und nahm hastig einen Schluck aus dem Glas.
„Ok, gib mir mal die Unterlagen. Werde schauen, ob ich etwas erreichen kann.“
Maria griff erneut unter die Theke und beförderte einen Aktenstapel an die Oberfläche, den sie ihm zuschob.
„Danke, wäre echt großartig von Dir.“
Sie lächelte ihn an, beugte sich über die Theke und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Trevor genoss die Bauchwärme, die sich in ihm ausbreitete und selbst dann noch anhielt, da er den Kopf auf das Kissen im heimischen Bett legte und zu träumen begann.

Als er am nächsten Tag seinen Arbeitsplatz aufsuchte, verzichtete Tevor auf den Einsatz von Textbausteinen. Alle eingehenden Anträge beschied er positiv. Das tat er auch an den folgenden Tagen und Wochen. So lange, bis die Führungsetage auf seine Aktivitäten aufmerksam wurde und ihm den Austritt nahe legte.

Maria erhielt in der Zwischenzeit einen Bescheid von ihrer Versicherung, in dem sie einen Irrtum einräumte und nun doch für den entstandenen Schaden aufkommen wollte. Von der erstatteten Summe ließ sich Maria einen Whirlpool installieren und lud Trevor zu einem Probebad ein, das dieser in ihrer Gesellschaft genoss.
Das wiederum führte zu dem Beginn einer leidenschaftlichen und andauernden Verbindung, in deren Verlauf aus dem Sachbearbeiter eines namhaften Versicherungsunternehmens ein Kneipenwirt mit Leib und Seele wurde.

Hilfsbereitschaft hin oder her - Geschenke wurden im „Einklang“ nicht verteilt. Der Neue hinter der Theke wusste nur allzu gut mit Zahlen umzugehen, aber wer ein offenes Ohr oder eine brauchbare Currywurst suchte, der konnte dort fündig werden.
Die Nutzungsrechte für Trevors horizontalen Maßnahmenkatalog gegen weibliche Unterleibsdepressionen hat sich allerdings Maria exklusiv gesichert.